Nuklearmedizin: von Diagnostik zur Therapie
Die Nuklearmedizin vollzieht einen Wandel von einem traditionell vorwiegend diagnostischen Fachgebiet zu einem Bereich mit breitem therapeutischem Anwendungsspektrum. Eine aktuelle Publikation fordert entschlossenes Handeln, damit Patienten von den neuen Behandlungsoptionen profitieren können.
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Die Nuklearmedizin in Deutschland steht vor einem Wendepunkt. Das traditionell vorwiegend diagnostische Fachgebiet entwickelt sich zunehmend zu einem Bereich mit breitem therapeutischem Anwendungsspektrum. Diese Transformation erfordert jetzt entschlossenes Handeln, damit Patienten von den neuen Behandlungsoptionen profitieren können. Das ist das Fazit des neuen Weißbuchs „Radioligandentherapie in Deutschland“, das vom IGES Institut herausgegeben wird und in Zusammenarbeit mit Experten des Bereichs entstand. Das Weißbuch stelle den aktuellen Stand der nuklearmedizinischen Versorgung dar, identifiziere Versorgungslücken und nenne Handlungsbedarfe, um den künftigen Nutzen dieser Behandlungsoptionen nachhaltig zu sichern, so Dr. Norbert Gerbsch, Leiter Public Affairs am IGES Institut.
Laut Prof. Dr. Ken Herrmann, Direktor der Klinik für Nuklearmedizin am Universitätsklinikum Essen, wird die Nuklearmedizin zukünftig voraussichtlich bei zahlreichen Krankheitsbildern eine zentrale Rolle einnehmen. Mehr als 200 klinische Studien mit Radiopharmazeutika laufen, so Herrmann, vor allem für die Krebstherapie, wo sie vielversprechende Alternativen zu konventionellen onkologischen Behandlungsmethoden eröffnen könnten. Haupttreiber sei die Radioligandentherapie (RLT), bei der radioaktive Substanzen direkt an Krebszellen binden, um sie mittels radioaktiver Strahlung zielgenau zu zerstören. Derzeit stehen in Deutschland zwei solche Therapien für die Behandlung bestimmter Patienten mit Prostatakrebs und mit hormonproduzierenden Tumoren des Verdauungssystems zur Verfügung.
Nuklearmedizinische Behandlungskapazitäten sichern
RLT erfolgen unter strikten Strahlenschutzvorschriften in Kliniken. Allerdings werden seit Jahren stationäre Behandlungskapazitäten abgebaut, was dem absehbaren neuen Angebot an innovativen Therapien entgegenläuft, betonen die Autoren: Gab es im Jahr 2010 noch 921 nuklearmedizinische Betten, waren es 2022 nur noch 748. Dies entspricht 0,9 Betten pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: Die Rheumatologie mit ähnlich hohen Fallzahlen weist 1,4 Betten pro 100.000 Einwohner auf. Zudem bieten nur 60 der 92 nuklearmedizinischen Fachabteilungen neben Diagnostik auch RLT an (Stand: 2023).
Gründe für diese rückläufige Entwicklung seien die früher eher geringe Bettenauslastung, fehlende Investitionen, aber auch zunehmend strengere Strahlenschutzauflagen und nicht zuletzt aktuell der Fachkräftemangel, um überhaupt entsprechende Abteilungen betreiben zu können.
„Eine reine Umverteilung bestehender nuklearmedizinischer Ressourcen wird dem steigenden Bedarf nach radiopharmazeutischer Diagnostik und Therapie nicht gerecht. Um bestehende Strukturen zu erhalten und auszubauen benötigen wir eine spezielle Förderkategorie für nuklearmedizinische Einrichtungen im Rahmen der Krankenhausfinanzierung“, so Herrmann.
Zugangshürden überwinden
Die RLT ist für viele Patienten derzeit schwer zugänglich, vor allem aufgrund unzureichender Erstattungsregelungen für notwendige nuklearmedizinische Bildgebung. So sind zur Therapieplanung, aber auch zur Verlaufskontrolle Untersuchungen etwa mittel Positronen-Emissions-Tomografie (PET) unerlässlich, die wiederum meist nur stationär erstattet werden. Auch sind die für die Diagnostik notwendigen radioaktiven Markierungssubstanzen (Tracer) teilweise nicht erstattungsfähig. Ferner sind Diagnostikangebote regional stark unterschiedlich verteilt.
„Eine erweiterte Kostenübernahme ambulanter nuklearmedizinischer Diagnostik würde eine wohnortnahe Versorgung ermöglichen und gleichzeitig vorhandene Ressourcen in Krankenhäusern und nuklearmedizinischen Praxen effizienter nutzen", so Prof. Dr. Christian la Fougère, Ärztlicher Direktor der Abteilung Nuklearmedizin und Klinische Molekulare Bildgebung am Universitätsklinikum Tübingen, und ebenso Mitautor.
Das Weißbuch betont für den Patientenzugang zudem die Schlüsselrolle der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV), die als Schnittstelle zwischen der klassischen ambulanten und der stationären Versorgung fungiert. Sie wurde konzipiert, um Patienten mit komplexen, schwerwiegenden oder seltenen Erkrankungen eine spezialisierte, interdisziplinäre Behandlung zu ermöglichen.
Allerdings variiert die Verfügbarkeit der ASV-Teams regional erheblich. Besonders in einigen Regionen im Norden und Osten Deutschlands sind kaum bis keine ASV-Teams vorzufinden. Der erhebliche bürokratische Aufwand und die regional sehr heterogenen Anforderungen an die ASV würden maßgeblich zum Mangel an ASV-Strukturen bei, analysieren die Autoren.
„Eine Stärkung und Ausweitung der ASV-Strukturen könnten wesentlich dazu beitragen, die Versorgungslücke zwischen ambulanter Diagnostik und stationärer Therapie bei der Radioligandentherapie zu schließen, solange noch keine flächendeckende nuklearmedizinische Regelversorgung existiert“, so la Fougère.
„Eine zukunftsfähige nuklearmedizinische Versorgung erfordert gemeinsame Anstrengungen aller Akteure im Gesundheitswesen – von Politik und Kostenträgern über medizinische Fachgesellschaften bis hin zu Patientenorganisationen. Nur durch vorausschauende Planung und die Überwindung sektoraler Grenzen können wir sicherstellen, dass innovative nuklearmedizinische Therapien allen Patienten zugänglich werden, die davon profitieren können“, fasst IGES-Experte Gerbsch die Erkenntnisse des Weißbuchs zusammen.
Das Weißbuch ist als Open-Access-Publikation erschienen und kann online hier gelesen werden.